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Forschungsbericht]

Mitschriften: Formate universitärer Kritik

Projektbeschreibung:
Die Universität ist vielleicht die erfolgreichste alteuropäische Institution der gegenwärtigen Gesellschaft. Sie ist erfolgreich hinsichtlich ihrer Attraktivität als »Intelligenzbank« (Talcott Parsons), an der auf die Reflexionsräume der Gesellschaft Hypotheken aufgenommen und in Form von jedermann zugänglicher Diskurserfahrung individuell verzinst werden. Sie ist auch erfolgreich hinsichtlich des Inklusionsimperativs der Gesellschaft; nicht nur verschließt sie sich praktisch keinem Bildungsverlauf mehr, der auf sie orientiert ist, sondern sie führt auch relativ zuverlässig zu einem in berufliche Karrieren mündenden Abschluss dieser Bildungsverläufe. Die abschätzig ›Massenuniversität‹ genannte Universität der Gegenwartsgesellschaft ist nichts anderes als eine inklusive Universität; in diesem Sinne ist sie erfolgreich. Allerdings hat dieser Erfolg seine Schattenseiten. Zum einen vernachlässigt die Universität sich selbst als möglichen Ort beruflicher Karrieren; sie versteht sich als Passage, nicht als Ziel von Bildungsverläufen, ist also auch darin ›Bank‹, dass sie stockende Ressourcen für problematisch hält, hohe Prozessgeschwindigkeiten präferiert und eher die Tempi des Fließens als des Verweilens beleiht. Dieses Selbstverständnis erweitert die Komplementärrollendifferenz von Professoren und Studenten zu einer Kluft; die einen werden immer sesshafter, die anderen immer flüchtiger, die einen immer austauschbarer, die anderen immer indifferenter und überflüssiger. In der Folge erscheint das Studium als durch Prüfungen strukturierte lineare Sequenz, die keine praktisch relevanten Überschneidungen mit dem akademischen Leben hat – eine Art Parallelexistenz. Zum anderen wird die Universität durch ihren sozialen Erfolg daran gehindert (oder jedenfalls nicht dazu aufgefordert), die Angemessenheit ihrer Strukturen zu befragen. Der in der Allinklusion sichtbar werdende Erfolg erscheint zwar als Zerfall einer ständisch verfassten Ordnung, gibt aber nur Anlass zu Immunreaktionen, die immer dann auftreten, wenn die Parallelexistenz unterbrochen wird, wenn also Studenten auf die Seite der Professoren ›kreuzen‹ und wie Rangleiche diskutieren, ohne Ranggleiche zu sein, wenn sie also im Wortsinne Kritik üben. Aufgrund der verlorenen universitären Laufbahnorientierung, aus der sich die Sicht der Studenten als Proto-Akademie ergeben hatte (so etwa bei Schleiermacher), erscheinen diese wie unbefugte Eindringlinge, denen selbst die Achtung nicht mehr zuteil wird, die die alteuropäische Universität den Studenten als möglichen künftigen Statusgleichen entgegenzubringen verstand. Und auch die Studenten selbst verstehen sich auf die Verhaltensregeln nicht mehr, die ein solcher Proto-Zustand verlangen würde. Hatte der Student der alteuropäischen Universität die Universität gewechselt, um das genannte ›Kreuzen‹ in Form einer Vagabondage oder einer Abwesenheit zu prozessieren (eine exit-Strategie, auch um den offenen Konflikt mit dem Professor zu vermeiden), so liegt dem Student der Gegenwartsuniversität zumal unter digitalisierten Umständen die Adressierung einer außeruniversitären Öffentlichkeit (und die Pflege des Konflikts, also eine voice-Strategie) näher. In dieser Öffentlichkeit – die der inneruniversitären Öffentlichkeit v.a. der Vorlesung strukturell äquivalent ist – behält er die indifferente Flüchtigkeit bei, die seine Lage auch universitätsintern bestimmt, was der Auseinandersetzung aus Sicht des Professors nicht nur den Charakter einer unbefugten Einmischung, sondern auch den Charakter der Denunziation verleiht. Damit ist der Gegenstand bezeichnet, dem sich der Teilnehmerkreis des vorgeschlagenen Seminars widmen möchte. Welche Formen der Kritik an der Universität und ihren Kommunikationsformen gibt es, im Kontext der Universität? Wird dieser universitäre Kontext verlassen, wenn die Kritik sich nicht in direkter Interaktion unter Anwesenden, sondern als Kommunikation unter Abwesenden vollzieht? Welche Textgenres entstehen – im Titel gleichwohl und mit Bedacht »Mitschriften« genannt? Lassen sich Autorität, Stabilität und Status der einen Seite mit Indifferenz, Flüchtigkeit und Ambiguität der anderen Seite schreibend verbinden? Können inneruniversitäre und außeruniversitäre Öffentlichkeit die Seiten wechseln, kann die Kritik der Universität die Grenze der Universität kreuzen? Verlässt sich auch die moderne Universität auf studentische Präferenz für exit vor voice?

Ansprechpartner: Prof. Dr. phil. habil. Maren Lehmann
Projektlaufzeit:
Projektbeginn: 27.11.2017
Projektende: 01.12.2017
Projektleitung:
Prof. Dr. phil. habil. Maren Lehmann

Zeppelin University Friedrichshafen
Lehrstuhl für Soziologische Theorie | davor: Lehrstuhl für Soziologie
Schwerpunkt Organisationstheorie (eingerichtet 2012/04)
Am Seemooser Horn 20
88045 Friedrichshafen

Telefon: +49 7541 6009-1362
Fax: +49 7541 6009-1399
Email: maren.lehmann@zu.de
http://www.zu.de/lehmann
Projektbearbeitung
Prof. Dr. phil. habil. Maren Lehmann; Joachim Landkammer
Finanzierung:

  • Alfred-Töpfer-Stiftung & Merkur

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